Auszüge aus dem Roman

Kapitel 1

Zumindest konnte ich Christian wieder im wirklichen Leben sehen, nicht nur online und in meinen Fantasien. Ich fragte mich, ob ihn mein Vorschlag überraschen würde. Vermutlich schon, dachte ich. Schließlich war ich geübt darin, meine Gefühle für ihn zu verbergen. Nur meinen besten Freunden Olga und Cem hatte ich meine Verliebtheit gebeichtet. Ich wusste zu gut, wie lächerlich die Vorstellung für die meisten Menschen war, ein Mann wie Christian könnte sich in eine Frau wie mich verlieben. Christian, da war sich die Gesellschaft einig, spielte in einer anderen Liga als ich. Er war, was man einen Macher nannte, ein Mann, dessen Agentur die Social-Media-Szene aufmischte, er war erfolgreich, sportlich und von einer in sich ruhenden Selbstsicherheit. Ich passte kein bisschen in das Beuteschema, das man einem Mann wie ihm zuschrieb. Auf meinem Nachttisch stapelten sich Fantasyromane und Computerzeitschriften, ich fand Gerüchte über neue Smartphone-Entwicklungen aufregender als sämtlichen Klatsch aus Hollywood und ich konnte stundenlang mit Freundinnen über die Unterschiede zwischen den Büchern und den Verfilmungen von »Der Herr der Ringe« diskutieren. Ich war, mit anderen Worten, ein Geek. Noch dazu einer, der locker das Doppelte von den superschlanken Elfen aus der Werbewelt wog, und ich kannte keinen einzigen Mann in seiner Position und mit seinem Aussehen, der eine Frau oder Freundin mit meinen Proportionen hatte. Vielleicht war es ein Fehler, überhaupt hier zu sein, und die Idee, ihn anzusprechen, eine Wahnvorstellung. Würde er mich auslachen, wenn ich ihm ein Date vorschlug, wie er es manchmal in meinen Alpträumen tat, aus denen ich zittrig und schweißüberzogen hochschreckte? Würde er mir ins Gesicht sagen, dass ich für einen Mann wie ihn schlicht und ergreifend zu fett war?

Kapitel 3

Sie hängte sich bei ihm ein und drückte ihren Körper an den Mann, der aussah wie ein Elitesoldat aus einem Ego-Shooter, den jemand gegen seinen Willen in Abendkleidung gesteckt hatte. »Sehr eleganter Frack«, sagte ich. »Leibwächter bei der Queen?« Colin lachte. »Oboe im Orchester der English National Opera.«

Als er meine vor Überraschung hochgezogenen Augenbrauen bemerkte, wurde sein Gesicht weich, und ich verstand, was Tamsin an Colin anziehend fand. »Vor ihm habe ich immer geglaubt, dass sich im Netz keine Männer mit Klasse herumtreiben«, sagte Tamsin und drückte ihrem Geliebten einen Kuss auf die Wange. »Was für eine Plattform war das?« Ich lächelte die beiden an. »Da sollte ich auch mal vorbeischauen.«

»Bist du auf der Suche?«, fragte Tamsin.

»Sozusagen. Ich fürchte nur, die herkömmlichen Datingseiten geben für Frauen wie mich nicht viel her.«

»Vergiss die üblichen Plattformen, und versuch es lieber auf den Seiten für Liebhaber von Plus-Size-Frauen«, sagte Colin. »So habe ich diesen Schatz hier gefunden.« Er hauchte Tamsin einen Kuss auf die Stelle zwischen Ohr und Nacken. Ich glaubte, Tamsins Erregung bis zu mir spüren zu können. Beim Anblick ihres Glücks fühlte ich eine Welle der Sehnsucht über mich schwappen, so heftig, als würde all mein aufgestauter Hunger auf einmal über mich hereinbrechen. Ich entschuldigte mich bei den beiden und lehnte mich im Waschraum des Clubs an die portweinrote Samttapete. Dabei betrachtete ich mein Gesicht und mein Dekolleté im Spiegel, der meinen Kopf und meinen Oberkörper einrahmte wie eine kleine runde Kamee. Wenn Tamsin und Colin einander gefunden hatten, gab es auch Hoffnung für mich, dachte ich. Die Welt da draußen war voller Männer, die auch Frauen wie mich erotisch fanden. Ich durfte auf der Suche nach ihnen nur nicht wieder in meine dummen alten Muster verfallen.

Ich lächelte mein Spiegelbild an. Was, wenn ich das Ganze wirklich wie ein Abenteuer sah, wie eine Quest, eine Mission in einem Computerspiel? Statt Drachen würde ich Prinzen jagen, und die Prinzessin, die sich befreite, war ich selbst.

Kapitel 7

Robert nahm mich in die Arme. Ein kleines Zittern durchlief mich, als ich seine nackte Haut an meiner spürte, und ich war nicht ganz sicher, ob es Angst oder Lust war. Ich horchte in mich hinein, verband mich mit dem Zentrum meiner Intuition tief in meinem Bauch. Doch, ich vertraue ihm, dachte ich. Robert hatte die Situation im Griff. Ich war eindeutig nicht die erste Frau, die sein Profil unter all den Sexprotzen auf der Erotikseite ausgewählt hatte, und er wusste, wie man einer Frau das Gefühl gab, gleichzeitig begehrt und geborgen zu sein. Ich stieß ein paar Rüschen weg, die bei meinen Füßen lagen. »Alles wieder gut«, sagte ich.

Robert senkte langsam den Kopf und küsste mich. Er neckte mich mit seinen Lippen, dann ermutigte er mich mit sanften, lockenden Bewegungen seiner Zunge, mich selbst vorzutasten und die seidige Hitze seines Mundes zu erkunden. Er schluckte mein Seufzen und schmiegte seinen schlanken Körper an meinen runden. Gefiel ihm die Berührung mit meiner Fülle? Hatte er schon entdeckt, wie ausladend meine Hüften wirklich waren? Was würde er über die kleinen Dellen an meinem Hintern und an den Oberschenkeln sagen? »Lass mich nur schnell das Licht ausmachen«, flüsterte ich, und wollte mich ihm entwinden. Er hielt meine Hand fest und führte sie an seine Lippen. »Ich bin neugierig, wie nahe deine Figur meiner Fantasie kommt«, sagte er. Ich war zuerst überrascht, dann fand ein kokettes kleines Lächeln den Weg auf meine Lippen. »Wie habe ich da ausgesehen?« Er küsste mich wieder, dann strich er mit seinen Lippen über meine Wange, zu meinem Ohr und meinen Hals entlang. Ich drückte mich der süßen, heißen Reibung seiner Bartstoppeln entgegen, und atmete seinen Duft ein, eine Mischung aus Haut, Hitze und, zu meiner Überraschung, etwas, was nach Räucherkräutern roch und so gar nicht zu meiner Vorstellung von einem Marketingleiter eines großen Versicherungskonzerns passte. Robert löste seine Lippen von mir. »Ich habe mir vorgestellt, wie dein Busen sich in meiner Hand anfühlt, wenn ich ihn vom BH befreie, und wie deine Haut unter deinem Kleid aussieht. Ob sie überall so hell ist wie in deinem Ausschnitt.«

Ich lächelte ihn an. Das klang doch besser als die grenzwertigen Fettenfantasien meiner anderen beiden Liebhaber. Viel besser. Robert ließ seine Finger unter einen Träger meines BHs gleiten und zog ihn sanft nach unten. »Ich wusste seit dem Moment, als du ins Café kamst, dass ich dich vögeln will«.

Kapitel 17

Ich las die Konversation noch mal und dachte an all die sportlichen Dicken, deren Fotos und Videos ich in den letzten Wochen im Internet gefunden hatte, an all die Bauchtänzerinnen und Schwimmer, die Läuferinnen und Yoga-Anhänger, an all die Menschen, die Sport trieben, weil es ihnen gut tat und sie sich mit ihrem Körper

verbinden wollten. Ich begann mich zu fragen, warum man Bilder sportlicher Dicker zwar haufenweise im Internet fand, aber so gutnwie nie in den regulären Medien. Dann fiel mir eine Fotostrecke in einer Fitnesszeitschrift ein, die ich mir vor gut zehn Jahren gekauft

hatte. Eine Plus-Size-Trainerin hatte Gymnastikübungen vorgeführt, und die Reaktionen der Leserinnen im Netz waren ziemlich heftig gewesen, mit Kommentaren von „Wenn die so fett ist, kann das Training gar nicht wirksam sein“ bis zu “Lasst uns wenigstens die Illusion, dass man durch Sport abnehmen kann.“

Offenbar waren die Vorurteile zum Thema Gewicht und Sport im letzten Jahrzehnt nicht weniger geworden. Als ich das Browserfenster schloss, war mir richtig schlecht, und ich fühlte mich schmutzig, innerlich wie äußerlich. Obwohl ich mehr als eine Stunde im Becken verbracht hatte, wollte ich jetzt nur noch duschen.

Ich zog mich aus und schleppte mich ins Bad, wo mein Blick in den Spiegel fiel. Ich sah einen Abendsonnenstrahl auf meiner Schulter, einen schmalen Streifen Licht, der durch das Fenster fiel und schräg über meine Haut verlief. Der Kontrast zwischen meiner ohnehin hellen Haut und der beleuchteten Fläche faszinierte mich. Als ich mich etwas drehte, veränderte der Streifen seine Form und seine Lage auf meiner Haut. Ich stellte mich mit dem Rücken zum Fenster und ließ das Licht zuerst über meinen Rücken und dann über meinen Bauch fließen. Ich ließ es mit den Kurven und Rollen und Unebenheiten spielen.

Aus dem Wohnzimmer holte ich mein Handy und fotografierte mich, zuerst einfach so, dann mit diversen Fotoapps und Filtern. Schließlich nahm ich meinen Skizzenblock und meine Bleistifte und zeichnete die Fotos nach. Am Ende stand ich vor dem Spiegel in meinem Schlafzimmer, skizzierte meinen Bauch, meine Hüften und den Übergang von meinen Schenkeln zum Venushügel. Ich nahm mich als eine Mischung von Formen und Farben wahr, von Licht und Schatten, von Flächen und Negativräumen. Ich verbrachte den Rest des Tages damit, mich zu zeichnen. Mich das erste Mal in meiner wirklichen Schönheit wahrzunehmen. An diesem Tag wurde ich meine eigene Muse.